Heute jährt sich der Hamas-Überfall auf Israel.
Über tausend Israelis sind dabei ungebracht worden, viele sind als Geiseln immer noch verschleppt.
Über 40000 sind im Krieg auf der palästinensischen Seite getötet worden.
Was bedeutet das für die Welt? Was kann ...getan werden?
Wichtiger Beitrag von Anna Sauerbrey / Tagesspiegel!
„Wie der 7. Oktober die Welt verändert hat
Der Krieg im Nahen Osten verstärkt, was Russland in der Ukraine lostrat: eine Ära des Chaos. Die alte Weltordnung liegt in Trümmern, eine neue ist noch nicht in Sicht.
Ein Essay von Anna Sauerbrey
Am 27. September, in den Morgenstunden von New York, führt ein Saaldiener den israelischen Premierminister an das Rednerpult. Benjamin Netanjahu adressiert die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Beinahe ein Jahr ist es da her, dass die Hamas ein Musikfestival und mehrere Kibbuze an der Grenze zum Gazastreifen überfallen hat. Am 7. Oktober 2023 töteten die Terroristen etwa 1.200 Menschen, Babys, Ältere, Frauen, Männer. Sie vergewaltigten und köpften, verbrannten Menschen bei lebendigem Leib und filmten sich dabei. Sie entführten 251 Menschen. Rund 100 sind immer noch in der Gewalt der Hamas, viele von ihnen sind sicherlich tot. Die Befreiten berichten von qualvollen Haftbedingungen, von Misshandlungen, von sexueller Gewalt, Folter, Erniedrigung.
Einige Angehörige von Geiseln der Hamas sind an diesem 27. September nach New York gereist, um den israelischen Premierminister sprechen zu hören. Sie können sehen, wie die Delegationen vieler anderer Länder während der Rede demonstrativ den Saal verlassen. Am 27. Oktober 2023, auch dieser Tag jährt sich bald, marschierte Israels Armee in Gaza ein. Der Gazastreifen – den Israel für Journalisten immer noch abriegelt – ist nach allem, was man weiß, ein Trümmerhaufen. Der Krieg hat das, was man einmal leichthin "Weltgemeinschaft" nannte, noch tiefer gespalten.
Netanjahu ficht das nicht an. Vor den Vereinten Nationen hält er eine kämpferische und trotzige Rede. "Wir gewinnen!", ruft er in den Saal.
Am Morgen des 27. September in New York klingt "Wir gewinnen" beinahe anmaßend. In der Woche der UN-Generalversammlung, kurz vor dem Jahrestag des 7. Oktober, stellt sich die Lage so dar: Sicher, die Hamas ist geschwächt, und explodierende Pager haben im Libanon gerade erst rund 3.000 Kämpfer der Hisbollah verletzt und neun Menschen getötet. Aber Israel hat sich nur Zeit gekauft – zu einem hohen Preis: Die vor dem Krieg begonnene Entspannung mit den arabischen Nachbarn ist zunichte. Die rücksichtslose Kriegsführung hat viele Länder des Globalen Südens, viele Europäer und Amerikaner gegen Israel aufgebracht.
Der wichtigste Freund Israels – die USA – ist entfremdet und durch den Krieg innerlich aufgewühlt. Der Preis des israelischen Krieges gegen die Hamas ist auch die weitere Radikalisierung und Spaltung der eigenen Gesellschaft. Und zuletzt, und doch zuerst: Der Preis sind 41.000 tote Palästinenser und viele tote israelische Geiseln.
…
Fazit
Heißt das alles, dass sich die Logik der Gewalt dauerhaft gegen die Logik der Politik durchsetzen wird? Die Logik der Eskalation gegen die Logik der Deeskalation? Bleibt es bei der fragilen Momentaufnahme rund um den Jahrestag, dass Israel gewinnt? Oder bleiben Israels Truppen, wie schon einmal, im Süden des Libanon stecken, entwickelt sich ein mal mehr, mal weniger heißer Dauerkrieg im Nahen Osten?
Ist der Westen am Ende doch zu unentschlossen, sind die Wechselwirkungen zwischen Ukraine- und Nahostkrieg zu übermächtig, die demokratischen Gesellschaften zu zerstritten, um Putins Überfall auf die Ukraine wirksam zu sanktionieren und einen diplomatischen Weg im Nahen Osten zu erzwingen? Kommt es bis zum nächsten 7. Oktober auch in Europa nur zu einem faulen Frieden, der Putins Überfall letztlich belohnt und die Ordnung weiter zersetzt?
Wie gesagt, jede Prognose ist Astrologie. Aber es sind Szenarien denkbar – auch positive.
Denn in der neuen Multipolarität der Welt stecken auch positive Kräfte. Viele der Länder, die der Westen vor allem als fence-sitter betrachtet, streben in ihrer Region nach Aufstieg, Machtzuwachs, Wohlstand. Krieg, das weiß Saudi-Arabien ebenso wie Indien, ist da nur hinderlich – man wird mit der Anpassung a den Klimawandel absehbar genug zu tun haben.
Gelingt es den USA und Europa, mit diesen Staaten Bündnisse zur Beilegung der Kriege zu formen – und seien sie ad hoc –, wäre viel gewonnen. In einem positiven Szenario gewinnt Kamala Harris die US-Wahl, erhöht wirksam den Druck auf Netanjahu und entwirft gemeinsam mit den Golfstaaten einen Plan für ein Gaza nach dem Krieg und eine weitere Eindämmung des Iran. Die großen europäischen Länder, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, besinnen sich auf ihre außenpolitischen Ambitionen und helfen, den Frieden abzusichern.
Die Koalition der Unterstützerstaaten der Ukraine wäre gestärkt und fände nach dem toten Moment der amerikanischen Wahl den Mut, die Ukraine stärker als bisher zu unterstützen und einen Verhandlungsfrieden mit wirksamen Sicherheitsgarantien abzusichern. Indien, Katar oder Saudi-Arabien – die neuen Kooperationsmöglichkeiten mit dem Westen fest im Blick – würden helfen, ein Abkommen zwischen Russland und der Ukraine zu verhandeln. Die Achse Russland-Iran wäre gezwungen, ein Mindestmaß der Regeln der alten Ordnung wieder anzuerkennen – zumindest eine Zeit lang.
Auch nur eine Entlastungsfantasie? Womöglich. Aber in den zahllosen losen Enden der Unordnung steckt auch eine Chance. Im Moment profitieren vor allem die Hasardeure und die Skrupellosen. Warum nicht auch einmal die Mutigen und Entschlossenen?”
👉https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-10/naher-osten-jahrestag-massaker-hamas-geopolitik